Eichstätt. – Grundschüler in Deutschland lesen deutlich weniger und auch schlechter als noch vor 20 Jahren. Das geht aus der neuen IGLU-Studie hervor. Wissenschaftlerinnen der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU), die im Bereich der Deutschdidaktik und der Lehrerbildung tätig sind, bezeichnen die Ergebnisse als „alarmierend“. Die Förderung der Lesekompetenz von Kindern sei eine Aufgabe, die von Lehrkräften und Eltern gemeinsam getragen werden müsse. Sie kritisieren, dass an Grundschulen zu wenig Zeit lesebezogenen Aktivitäten gewidmet und überwiegend nur mit kurzen Texten gearbeitet werde. Ursächlich sei auch der Lehrermangel gerade im Primarbereich. Die Bildungspolitik müsse daher die Akquise von Lehramtsstudierenden weiter vorantreiben, so Dr. Petra Hiebl, die Leiterin des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der KU.
Die IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) wurde am 16. Mai vom Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund vorgestellt. Die seit 2021 erhobenen Daten zeigen, dass die Lesekompetenz von Kindern in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren deutlich gesunken ist: Rund ein Viertel der Viertklässler erreicht demnach nach internationalem Standard keine ausreichende Lesekompetenz – und damit nicht die nötigen Voraussetzungen für die weiterführenden Schulen. „Diese Ergebnisse sind alarmierend“, so Hiebl. Dass sich daraus große Probleme für den Lebensweg dieser Kinder in Schule, Beruf und Alltag ergeben, sei offensichtlich – „und das macht diese Zahl besonders bedrückend und bedrohlich“.
Zu viele „Kurztexte“ und mehr gezielte Unterstützung
Bemühungen um die Lesekompetenz müssten bereits vor dem Schuleintritt einsetzen, betont Prof. Dr. Cornelia Rémi vom Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. Doch auch während der Übergangphase in die Grundschule sollten Eltern ihren Kindern regelmäßig vorlesen und gemeinsame Vorlesesituationen initiieren. Die Daten des Vorlesemonitors aus dem Jahr 2022 zeigten jedoch, dass viele Eltern mit dem Eintritt ihrer Kinder in die Schule mit dem Vorlesen aufhörten. „Für diese wichtige Aufgabe braucht es ein Hand-in-Hand von Lehrkräften und Eltern, um Kinder bestmöglich zu fördern“, so Rémi. Kritik übt die Germanistin auch an der Unterrichtspraxis: Die IGLU-Studie zeige, dass in den Grundschulen den lesebezogenen Aktivitäten weniger Zeit gewidmet werde als im internationalen Durchschnitt. „Außerdem wird überwiegend mit Kurztexten gearbeitet, während längere Texte kaum genutzt werden. Gerade die regelmäßige Begegnung mit umfangreichen und komplexen Texten wäre wichtig, um die Kinder in ihrer Leseentwicklung voranzubringen“, so Rémi. Ebenso wichtig wäre die Unterstützung jener Eltern, die aufgrund ihres eigenen Bildungsweges oder beruflicher Überlastung ihre Kinder weniger fördern können.
Ursächlich für die Situation sei auch der Lehrermangel, der sich insbesondere im Primarbereich deutlich bemerkbar mache, ergänzt Petra Hiebl. „Für die Bildungspolitik heißt das, die Akquise der Lehramtsstudierenden weiter voranzutreiben.“ Gleichzeitig sei es aber unerlässlich, „für unsere Kinder das beste Personal auszubilden, das wir bekommen können – und das gilt nicht nur für die Lehrkräfte, sondern ebenso für die Fachkräfte im Elementarbereich, wie beispielsweise Kinderpflegerinnen und Erzieher“. Systematische Leseförderung beginne bereits im Vorschulalter und erstrecke sich später über alle Fächer der Schulen, ergänzt Dr. Anna Kretschmar-Schmid, akademische Rätin am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. „Wir brauchen optimal ausgebildetes Personal, das weiß, wie man Leseförderung professionell betreibt.“
Vorlesen als „wirksames Instrument“
Bereits die Ergebnisse des Vorlesemonitors zeigten, dass Kindern durchschnittlich zu wenig und mit einem Beginn von zweieinhalb Jahren auch zu spät vorgelesen werde. „Vorlesen ist ein wirksames Instrument gegen Leseprobleme“ so Kretschmar. „Es gibt hier auch kein Zuviel, denn die positive Wirkung des Vorlesens auf Wortschatz, Kommunikationskompetenzen und Sprachfertigkeit der Kinder haben bereits zahlreiche Studien vielfach bestätigt.“
Die Lehrerbildung an der KU bietet ihren Studierenden vielfältige Möglichkeiten, sich bereits während ihrer Ausbildung in der Leseförderung zu engagieren und sich zu kompetenten Experten für Leseförderung zu entwickeln, führt Petra Hiebl aus. An der KU setzen sich angehende Lehrerinnen und Lehrer mit der Leseförderung nicht nur in Gestalt von Theoriediskussionen auseinander: „Wir schreiben den Theorie-Praxis-Transfer groß. So lernen die Studierenden viele Wege kennen, um eine schulische Leseumwelt zu entwickeln, wie zum Beispiel Lesewettbewerbe, Lesenächte oder -festivals, Autorenlesungen, Leseclubs – eine Fülle von Methoden, mit denen sich die Lesekompetenz der Kinder fördern und entwickeln lässt.“
„Die Werkzeuge sind vorhanden“
Ein Beispiel dafür bietet das Eichstätter Vorleseprojekt am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik: Lehramtsstudierende besuchen eine Klasse, lesen Kindern vor und arbeiten mit ihnen handlungsorientiert an ihrer Lesekompetenz. Auch in der Deutschdidaktik entwickeln die Studierenden regelmäßig kleine Lern- und Förderprojekte, die sie an Schulen und Kindergärten oder auch in der Bücherei umsetzen und auf die Probe stellen, aktuell etwa in der Arbeit mit Bilderbüchern. Zu den wiederkehrenden Gelegenheiten zählen auch die Besuche bekannter Vertreterinnen und Vertreter der Kinder- und Jugendliteratur an der KU.
„Das Spektrum von Werkzeugen und Interventionen, die unsere Studierenden an der KU kennenlernen, ist gewaltig und reicht von der Arbeit mit Bilderbüchern bis hin zum Einsatz digitaler Werkzeuge“, so die Leiterin des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Auch die Künstliche Intelligenz schaffe neue Möglichkeiten. „Die untersuchen wir in Lehrveranstaltungen, etwa in Gestalt von Lese-Apps, welche die Leseflüssigkeit, -geschwindigkeit und das Leseverständnis spielerisch prüfen und darüber Rückmeldung geben.“ „Die Werkzeuge sind vorhanden, die Möglichkeiten sind riesig – wir müssen sie ergreifen und nutzen“, zieht Hiebl ein Resümee. Die Ergebnisse der IGLU-Studie verdeutlichten den großen bildungspolitischen Handlungsbedarf und zeigten die Dringlichkeit. upd