Eichstätt. – Dass in all der bunten und schrillen, aufmerksamkeitsheischenden und provokativen Internet-Öffentlichkeit auch einmal ruhige und besonnenen Stimmen einen „Hit“ landen können, zeigt ein Video des Tübinger Professors Klaus Gestwa, Professor für Osteuropäische Geschichte. Rund einen Monat nach der Veröffentlichung haben bereits rund 360.000 Menschen das Video gesehen, in dem er eine Art Faktencheck zu Hintergründen des russischen Angriffs auf die Ukraine durchführt und mit allerhand Mythen aufräumt, die auch in der deutschen Öffentlichkeit herumgeistern.
„Weil zu beobachten ist, dass in der letzten Zeit sich in der deutschen Öffentlichkeit sehr meinungsstarke, aber auch ahnungslose Stimmen laut zu Wort melden, die ganz bestimmte Annahmen über die Gegenwart, dier Geschichte und die Kultur Russlands und der Ukraine vertreten, die wissenschaftlich sich nicht belegen lassen, ist es hier und heute mein Anliegen, diese Falschannahmen zu thematisieren und einen klaren Blick auf die Entwicklung im östlichen Europa zu werfen“, sagt Gestwa, nach einer Vorstellung seiner Person und seine eigenen Beziehungen nach Russland und in die Ukraine und die „lang gepflegten und mir sehr wichtigen akademischen Netzwerke“ in beide Länder „leider vorübergehend zusammengebrochen sind.“
„Es nervt dermaßen, diese intellektuell flachen und dreisten Beiträge zu sehen und zu hören“
„Es nervt dermaßen, diese intellektuell flachen und dreisten Beiträge zu sehen und zu hören“, sagt er mit Blick auf manche öffentlichkeitswirksamen Stimmen, die auch in Deutschland zu hören seien, sagte er gegenüber dem Online-Portal T-online. Damit wendet er sich auch ganz offensichtlich gegen Stimmen von Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und Feministin Alice Schwarzer sowie die ehemalige Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz oder „Verschwörungsguru“ Daniele Ganser.
Acht Thesen nimmt er dabei unter die Lupe, setzt sich damit auseinander und gibt seine persönliche Einschätzung als Experte dazu ab. Zur ersten These „Die NATO hat Russland bedroht – Putin musste sich verteidigen.“, hat er eine klare Meinung. „Diese These ist schlichtweg Unfug“, sagt Gestwa zu Beginn, um dann aber auch ausführlich zu erklären, warum. Leider sei es nach 1991 nicht gelungen, eine europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, in die Russland eingebunden gewesen sei. Es habe sicher Fehler und wechselseitige Missverständnisse gegeben, aber daraus ein Bedrohungsszenario Russlands durch die Nato abzuleiten, ist zimelich übertrieben“, erklärt der Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen auch mit Verweis auf Aussagen beispielsweise der Allrussischen Offiziersversammlung, die am Tag der Invasion in der Ukraine vor gut einem Jahr selbst gesagt habe, dass die Gefahr aus dem Ausland „herbeifantasiert“ worden sei, um die kriegerische Provokation eines Angriffs auf das Nachbarland zu kaschieren.
„Nur ein propagandistisches Zerrbild“
Anschließend erklärt er, wie es gerade die Angst vor neoimperialen Stimmen gewesen sei, die zu Angst in Osteuropa und dadurch erst zur Osterweiterung der Nato geführt habe. Zudem verweist er auf die Nato-Russland-Grundakte, in der eben das Sicherheitsbedürfnis Russlands gefasst worden sei und in der die Nato sich zum Beispiel dazu verpflichte, östlich der Elbe keine Militärstützpunkte zu errichten und maximal 5.000 Soldaten zu stationieren. Es gebe also eine politische, aber keine militärische Osterweiterung der Nato und auch Deutschland habe immer wieder versucht, die Beziehungen zu Russland zu verbessern und Russland einzubinden. Die von Russland propagierte angebliche militärische Bedrohung sei „nur ein propagandistisches Zerrbild, um den eigenen Angriffskrieg als Präventivkrieg erscheinen zu lassen, um damit von den tatsächlichen Gründen des Kriegsausbruchs abzulenken“.
Anschließend geht es zum Beispiel auch um die Frage, ob die Ukraine historisch zu Russland gehöre, was Putin wolle oder ob die Ukraine tatsächlich, wie in Gerüchten verbreitet, kein demokratischer Staat, sondern vom Westen und Oligarchen gesteuert sei. Auch mit Vorwürfen, dass die Medien im Westen wie die russischen lögen genauso viel wie die russischen oder mit dem immer wieder in Russland geäußertem Narrativen dass die Waffenlieferungen nur den Krieg verlängerten und dass die Ukraine und der Westen den Krieg durch Verhandlungen längst hätten beenden können, nimmt er Stellung.
Hier eine Übersicht über die Thesen – beim Klick auf die blau eingefärbten Zeiten vorne gelangen Sie jeweils zu dem entsprechenden Kapitel:
00:00 – Intro – Prof Dr. Klaus Gestwa stellt sich vor
01:46 – These 1 – Die NATO hat Russland bedroht – Putin musste sich verteidigen.
06:52 – These 2 – Die Ukraine gehört historisch gesehen zu Russland.
13:38 – These 3 – Niemand kann genau sagen, was Putin will.
18:53 – These 4 – Die Ukraine ist kein demokratischer Staat, sondern wird vom Westen und von Oligarchen gesteuert.
22:36 – These 5 – Die Krim und der Donbas gehören historisch gesehen zu Russland.
30:17 – These 6 – Wer Waffen liefert verlängert den Krieg.
36:56 – These 7 – Russische Medien lügen auch nicht mehr als westliche.
41:56 – These 8 – Die Ukraine und der Westen hätten den Krieg längst über Verhandlungen beenden können
Pro und Contra: „Ist Frieden möglich“ oder heißt sofortiger Frieden eigentlich (Teil-)Kapitulation?