Eichstätt. – Das Jesuiten-Refektorium war prall gefüllt am vergangenen Samstag und dies zeigte schon, dass den Eichstättern nach über einem Jahr Krieg in der Ukraine die Frage auf den Nägeln brennt: Ist Frieden in der Ukraine möglich? Genau diesen Titel hatten die Veranstalter für die knapp dreistündige Veranstaltung gewählt, zu der der Diözesanrat, die Bewegung Pax Christi und die Katholische Erwachsenenbildung im Landkreis Eichstätt (KEB) eingeladen hatten. Irmgard Scheitler, einer der beiden Vorstände von Pax Christi Eichstätt, konnte für die Diskussionsrunde zwei prominente Experten gewinnen, um die komplexe Frage aus theologischer und aus journalistisch-politischer Sicht zu beleuchten – allerdings ein dann doch sehr homogen besetztes Podium, das man aus kritischer Sicht auch gelinde als einseitig bezeichnen könnte.
Kritisch könnte man sagen, es ging weniger um die Frage, ob Frieden möglich sei, als vielmehr um einen Frieden um jeden Preis – so jedenfalls der Tenor des Kommentars zum Thema, den Sie unter diesem Text finden. Zwei lange Texte, zu einem komplexen Thema, die zeigen: einfache Lösungen gibt es in einer komplexen Welt nicht.
Von Dagmar Kusche und Robert Luff
Thomas Nauerth ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Osnabrück und Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund. Er sitzt im wissenschaftlichen Beirat von Pax Christi und hat das Ökumenische Institut für Friedenstheologie in Aalen mitbegründet. Der freischaffende Journalist und Buchautor Andreas Zumach gilt als Experte für Sicherheitspolitik, Rüstungskontrolle, Völkerrecht und Menschenrechte. Von 1988 bis 2020 arbeitete er als Korrespondent der Berliner „taz“ am Sitz der UNO in Genf. Beide Gäste hielten einen Impulsvortrag, der ihre jeweilige Sicht auf die Friedensfrage zeigte. Dabei spielten auch die jüngsten Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine eine wichtige Rolle.
Thomas Nauerth: „Der bewaffnete Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen“
Nauerth überschrieb seine Stellungnahme mit den Worten „In den Krieg gefallen – Friedensethik und Friedenstheologie in der Zeitenwende“ und begründete aus theologischer, aber auch aus moralischer Sicht die Notwendigkeit, diesen inhumanen Krieg, dieses „Monster, das zu nichts Gutem führt“, möglichst rasch zu beenden. Der moderne Krieg, bei dem der Aggressor weitgehend zu den gleichen Waffen greift wie der sich Verteidigende, sei durch nichts zu rechtfertigen und bestätige Jesu Pazifismus, wie er sich in der Bergpredigt oder in Matthäus 26,52 zeige: „Wer das Schwert nimmt, der wird durch das Schwert umkommen.“
Für Nauerth sind die derzeitigen Waffenlieferungen daher kein sinnvolles Handeln. „Mit einem Krieg schlage ich Putin keine Waffe aus der Hand, sondern töte junge Männer.“ Es käme eher darauf an, die zerstörerischen Geisteshaltungen, die hinter dem Krieg stehen und die Nauerth bereits in einer von Bonaventura im 13. Jahrhundert erzählten Geschichte über den heiligen Franziskus am Werke sah, zu wandeln. Erste Ansätze zu einem derartigen Wandel sah der Theologe in hoffnungsvollen Gesten wie dem Treffen zwischen russischen und ukrainischen Kriegsdienstverweigerern. Nauerth betonte aber auch die Rolle der Fürbitte und des Gebets im christlichen Kontext: „Mächte können sich wandeln. Wir haben es 1989 im eigenen Land erlebt.“
Andreas Zumach: Es müssen Verhandlungen stattfinden
Zumach zeigte in seiner politischen Analyse auf, welche Zweifel ihn an den Waffenlieferungen an die Ukraine umtreiben: „Der Mensch muss kein Pazifist sein, um eine große Skepsis zu haben, dass der Krieg für die Ukraine siegreich zu entscheiden ist“, betonte er gleich im Vorfeld seiner Ausführungen. Das zentrale Problem sei, dass nicht klar definiert sei, welche Ziele mit Waffenlieferungen erreicht werden sollen. Die Bandbreite der Minimalziele reiche vom angestrebten Erschöpfungspatt über die Zurückdrängung der Angreifer hinter die Linien vom 24. Februar und die Eroberung des ganzen Donbas bis zur Rückeroberung der Krim und sogar der dauerhaften Schwächung Russlands, damit es nie mehr in der Lage sei, militärisch zu agieren.
Doch darüber bestehe in den westlichen Unterstützerstaaten und Regionen keinerlei Konsens, vielmehr seien die Ziele von den westlichen Regierungen mehrfach verändert worden. Damit Einigkeit überhaupt zustande kommt, wäre es erforderlich, eine klare europäische Position zu beziehen, zum Beispiel die Ukraine bis zu dem Punkt zu unterstützen, an dem der russische Angreifer hinter die Linien vom 24. Februar zurückgedrängt ist. „Meine Analyse ist, dass trotz aller Schwierigkeiten, die die russischen Streitkräfte haben, Russland nach wie vor militärisch stark überlegen ist.“ Putin könne noch Hunderttausende Menschen in den Krieg zwingen, bei bestimmten Waffentypen gebe es eine deutliche Überlegenheit und die Panzerzahlen, die Selenskyj für notwendig erklärt hat, werde die Ukraine nicht annähernd bekommen: Putin hat nach Zumach weiterhin Eskalationsdominanz und könne seiner Bevölkerung noch eine Menge mehr an Entbehrungen zumuten. Vor dem Publikum im Jesuiten-Refektorium äußerte Zumach daher seine klare Position: „Es müssen Verhandlungen stattfinden.“ Illusionen mache er sich aber keine, und er wolle seinen Standpunkt auch nicht als Forderung nach einer Kapitulation Selenskyjs verstanden wissen. In der anschließenden, teilweise kontrovers geführten offenen Diskussion wurden folgende Schwerpunkte behandelt.
Welche möglichen Szenarien für den Ausgang des Kriegs sind denkbar?
„Wir haben nur die Wahl zwischen zwei großen Übeln“, konstatierte Zumach. Das eine wäre, das der Krieg noch sehr lange, mit sehr viel mehr Toten und weiterer Zerstörung, fortgeführt werde. Am Ende würden Kiew und andere Städte so aussehen wie Grosny nach dem Zweiten Tschetschenienkrieg und Russland gewänne dann doch noch militärisch. Das zweite Szenario gestalte sich so, dass Putin, weil er sich so in die Ecke gedrängt fühlt, doch zur Atomwaffe greifen würde: „Verglichen mit diesen beiden Szenarien ist eines von Waffenruhe und Verhandlungen das relativ bessere Szenario“, betonte Zumach.
Ist Putin überhaupt verhandlungsfähig?
In dieser Frage vertrat Nauerth eine klare Position: „Erst wenn wir wirklich wissen, ob Putin bei ernst zu nehmenden Verhandlungsangeboten verhandlungsfähig ist, können wir über diese Frage entscheiden.“ Grundsätzlich müsse aber erst einmal davon ausgegangen werden, dass Putin verhandlungsfähig sei. Denn im Fokus des Pazifisten stünden schließlich die Menschen, die in beiden Kriegen sterben, und der Wert, Menschenleben durch jede andere Art als tödlichen Krieg zu schützen, so Nauerth. Mit Rückbezug auf den Vietnam- sowie den Bosnienkrieg, die trotz der stark verhärteten Fronten schließlich doch noch durch Verhandlungen beendet werden konnten, verurteilte auch Zumach die Verweigerung sowohl Putins als auch Selenskyjs, sich an einen Verhandlungstisch zu setzen.
Er ließ jedoch keine Zweifel daran, dass dies mit jedem Tag, den sich der Krieg fortsetze, schwieriger werde. Damit es jedoch zu Verhandlungen zwischen beiden Kriegsparteien kommen könne, müsse es zunächst einmal ein Signal aus den USA geben und Selenskyj bereit sein, zu einem Punkt zurückzukommen, an dem er schon einmal war: zum Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft, allerdings mit Neutralität und verlässlichen Sicherheitsgarantien, aber ohne ausländischen Stützpunkte. „Dieses Signal muss Putin auch aus Washington erhalten. Das ist ein wichtiges Signal, das kommen muss“, schloss Zumach. Zudem wisse Putin genau, dass er mit dem Ukraine-Krieg einen Fehler begangen habe und allein das mache ihn verhandlungsbereit.
Führt die Ukraine einen Stellvertreterkrieg für den freien Westen?
Thomas Nauerth hält den Begriff Stellvertreterkrieg, der aus der Zeit des Kalten Krieges stammt, für den Ukrainekrieg nicht angemessen. Wolodymyr Selenskyj wisse genau, dass sein umkämpftes Land derzeit im Fokus der globalen Aufmerksamkeit steht, und er sei bereits vor dem Krieg unter erheblichem Beratungseinfluss aus Washington gewesen. Die Ukraine sollte sich aber nicht vor den Karren der geopolitischen Ziele der USA spannen lassen. Zumach wies darauf hin, dass die Frage des Stellvertreterkriegs unabhängig davon, wie sie beantwortet werden kann, wenig hilfreich für die wichtigere Frage sei, wie dieser Krieg schnellstmöglich zu beenden ist. Weltpolitisch appellierte Zumach an die südlichen Staaten, die täglich die Auswirkungen des Krieges an den ausbleibenden Getreideimporten spürten, Putin zu Verhandlungen zu drängen. In diesem Zusammenhang wies er aber auch auf die wichtige Rolle Chinas als Vermittler hin. Es liege auch in den ureigenen wirtschaftlichen Interessen Chinas, diesen Krieg zu beenden und so den Handel mit den USA und Europa zu intensivieren.
Strebt Putin eine imperialistische Ausweitung des russischen Territoriums an?
Diese Frage, die die Ängste vieler europäischer Staaten widerspiegelt, beantwortete Andreas Zumach mit einem klaren Nein. Putin habe zwar das Budapester Memorandum der KSZE von 1994 eindeutig gebrochen und durch den Krieg gegen die Sicherheitsgarantien der Ukraine verstoßen, doch strebe er keinen imperialistischen Krieg gegen Europa an. Die Krim-Annexion durch Russland 2014 stellte eine Reaktion Putins auf zwei Entscheidungen des ukrainischen Parlaments dar, durch die die russische Sprache im Land geschwächt und das Stationierungsabkommen russischer Soldaten auf der Krim mit Moskau einseitig gekündigt wurde. Vor allem letztere Maßnahme habe für Putin das Fass zum Überlaufen gebracht. Er wolle auch keineswegs das Baltikum erobern, obwohl dort Nato-Truppen stationiert seien. Auch sei es eine völlig abwegige Idee, dass die russischen Streitkräfte eines Tages Polen angreifen könnten.
Kommentar von Stephan Zengerle zum Thema:
Keine Friedens-, sondern eine „Kapitulationsbewegung“?
„Ist Frieden möglich?“ Allein die Frage klingt ein wenig zynisch. Natürlich ist Frieden möglich – die Frage ist wann und zu welchen Bedingungen. Und genau diese Bedingungen werden bei einer in unserer Social-Media-Welt oft so vereinfachten Betrachtung einer komplizierten Welt manchmal einfach unterschlagen – so offenbar auch in diesem Fall. Ein wenig mehr Realismus, statt ideeller Verbrämtheit hätte der Diskussion gut getan – angesichts einem eben nicht ausgewogen, sondern einseitig besetzten Podium wurde hier offenbar die Chance auf eine ausgewogene Darstellung der Situation verschenkt. Stattdessen wird auf subtile und zynische Weise insinuiert, als sei ein schneller Frieden möglich. Da geht es so ganz unwidersprochen nicht um die Frage, ob Frieden möglich ist, sondern um einen Frieden um jeden Preis. Oder anders gesagt: Um eine Art (Teil)-Kapitulation der Ukraine.
Natürlich: Den Dialog zum Frieden nicht aus den Augen zu verlieren und immer wieder mitzudenken, ist gut und wichtig. Und es gibt die Kontakte – natürlich. Gerade erst vor wenigen Tagen haben der US-amerikanische Generalstabschef Mark Milley mit dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu miteinander telefoniert. Bundeskanzler Scholz und der französische Präsident Macron haben immer wieder – trotz Kiritk von verschiedenen Seiten – mit Putin telefoniert. Das Problem ist auf der anderen Seite der Telefonleitung: Wladimir Putin will keinen Frieden, sondern er will einen Sieg: seinen Sieg. Daher wird er einen Frieden nur dann akzeptieren, wenn er dabei gewinnt und sich seinem Volk als großer Feldherr in der Tradition von Zar Peter der Große oder Stalin, der in Putins Russland immer mehr verklärt wird, präsentieren kann.
Hier steckt das Dilemma: Putin wird sich erst mit weniger als seinem Einfluss auf die gesamte Ukraine zufrieden geben, wenn er nichts mehr zu gewinnen hat. Er hat in diesem Krieg schon viel zu viel verloren – vor allem an Ansehen für sich und seine angeblich so ruhmreiche Armee, die bisher nach ihren eigenen Ansprüchen komplett versagt hat. Er verschenkt gerade zu einem guten Teil die Zukunft seines Landes. Putin muss erst militärisch so weit geschwächt werden, dass er in seiner Kreml-Blase fernab der Realität, versteht, dass er nichts mehr gewinnen kann, sondern vielleicht sogar etwas zu verlieren droht. Auch deshalb wird man aus der Ukraine immer wieder von der geplanten Rückeroberung der Krim hören – selbst wenn mache in der Ukraine das nicht für realistisch halten mögen. Die Krim kann Putin auf keinen Fall verlieren, ohne dabei auch selbst völlig das Gesicht zu verlieren. Er glaubt, er habe den längeren Atem und werde den seiner Meinung nach verweichlichten Westen schon dazu bringen, dass er seine Unterstützung einstelle – auch durch solche vorzeitigen und unüberlegten „Friedensrufe“, wie man sie jetzt vereinzelt hört. Putin und seine Propagandisten freuen sich darüber. Sahra Wagenknecht freut sich darüber, dass sie wieder bundesweit wahrgenommen wird und dass sie so viel Zulauf bekommt, dass sie vielleicht doch noch erfolgreich ihre eigene Partei gründen kann.
Was Wagenknecht und nun eben auch die „Experten“ in Eichstätt getan haben, geht weit am Wunsch nach Frieden vorbei und macht dabei einige Denk- oder zumindest „Darstellungsfehler“: Diese angebliche „Friedensbewegung“ tut gerade so, als wolle nur sie den Frieden, was völlig an der Realität vorbei geht. Um es umzudrehen: Niemand außer Wladimir Putin und seinem russischen Unrechtsregime wollte und will diesen Krieg. Würden die russischen Truppen abziehen, wäre sofort Frieden. Man kann natürlich sagen, das sei ja klar, das müsse man nicht aussprechen. Aber wer das nur so im Nebensatz sagt, macht sich angreifbar und verwirrt die Menschen – indem er den Friedensbegriff missbraucht. Auch in Eichstätt gibt es seit Ausbruch des Krieges Friedensgebete – für die Ukraine. Denn wer wäre nicht für Frieden? Es wird Friedensverhandlungen geben müssen, und es wird sie sicher geben. Aber es darf dabei nicht um einen Frieden von Putins Gnaden und um jeden Preis gehen – ein Preis, den wir alle, vor allem aber die Ukrainer zu zahlen hätten.
„Beeindruckend und überwältigend“: Eichstätter Mahnwache für Frieden in der Ukraine
Aber es geht noch um etwas anderes: Selbst die „taz“ als Andreas Zumachs ehemaliger Arbeitgeber, die sich als linksorientierte Tageszeitung in der Vergangenheit häufig für Frieden und gegen Waffen ausgesprochen hat, wirft dieser sogenannten „Friedensbewegung“ vor, dass sie eben ganz bewusst und unterkühlt oder aber reichlich naiv die Solidarität mit der Ukraine komplett vergesse: Sie tut so, als sei ein schneller Frieden zu annehmbaren Konditionen möglich und als könne und dürfe man über die Köpfe der ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern hinweg einfach so für sie entscheiden und die Ukraine zwingen, einen beträchtlichen Teil ihres Landes und ihrer Menschen endgültig unter russische Herrschaft zu stellen. Denn darum geht es. Die selbsternannte „Friedensbewegung“ tut fast so, als hätten Putin und sein Sprecher Peskow nicht durchgehend immer wieder öffentlich bestätigt, dass man nicht von seinen Kriegszielen abrücken wolle.
Wie die genau aussehen, hat sich in der Kreml-Kommunikation – wie so vieles andere – je nach Bedarf immer wieder einmal geändert. Die angebliche „Entnazifizierung“ eines Landes, das von einem jüdischstämmigen ukrainischen Präsidenten regiert wird, ist sowieso ein Witz – insbesondere, wenn man an die rechtsnationalen Blogger denkt, die in Russland selbst mit seiner streng kontrollierten Öffentlichkeit, in der etwa ein junges Mädchen wegen eines selbstgemalten Friedensbildes von ihrem alleinerziehenden Vater getrennt und in ein Heim gesteckt wurde, extremste Positionen vertreten dürfen. Der Begriff „Entnazifizierung“ soll die Russen einschwören – genauso wie der Ruf nach sofortigem Frieden uns zaudern lassen soll. Denn wie gesagt: Wer wäre nicht für Frieden? Mit „Entnazifizierung“ meint der Kreml aber eigentlich wohl nichts anderes als einen Regimewechsel, wie man ihn eben auch schon häufiger formuliert hat: Man will einen zweiten Lukashenko, also eine Art russischen Statthalter wie den belarussischen Diktator von Putins Gnaden. So, wie man ihn vor Jahren in Wiktor Janukowytsch auch in der Ukraine hatte.
Putin fürchtet nicht die Nato, sondern einen „russischen Maidan“
Putin fürchtet sich nicht vor der Nato. Die wenigen hundert neuen Soldaten, die unter anderem Deutschland derzeit an den russischen Natogrenzen stationiert haben oder überhaupt erst noch zu stationieren planen, sind alles andere als eine Bedrohung. Fragen Sie einmal im Baltikum, ob man sich dort deswegen wirklich sicher fühlt? Der Westen mag Fehler im Umgang mit Russland gemacht haben, aber dass sich Russland nach seinen blutigen Kriegen in Tschetschenien oder Syrien, angesichts seiner Rolle in Georgien und Moldawien oder den Einsätzen der Wagner-Truppe in Afrika, in eine Opferrolle zurückzieht, ist einfach nur zynisch. Die USA und andere haben auch viele problematische Kriege geführt – aber in der Ukraine hat ausschließlich Russland ein anderes Land überfallen und beweist mit seiner militärischen Rücksichtslosigkeit, dass es nicht um Menschen, sondern um Macht geht. Es gab und gibt überhaupt keine militärische Bedrohung und keinen Anlass dafür durch den Westen – jedenfalls keinen, der diesen erneuten russischen Krieg rechtfertigt. Allein ein Blick auf die marode Bundeswehr sagt alles. Die USA haben ohnehin ihre eigenen Probleme.
Nein, Putin fürchtet sich vor der Demokratie – vor einem russischen Maidan, der seinen Mann Janukowitsch aus dem Amt und nach Russland getrieben und das Land auf einen demokratiefreundlichen Kurs gebracht hat. Darum geht es. Russland hat an Einfluss verloren und Angst, dass das weit attraktivere westliche Gesellschaftsmodell auch auf sein neomodern als Zarenreich geführtes Imperium mit Selbstbereicherungspotenzial im kleinen Kreis seiner „Silowiki“ genannten Unterstützer aus Oligarchie und den Geheimdiensten übergreift. Schließlich gab es schon damals, vor dem Maidan in der Ukraine, auch in Russland Proteste gegen das Putin-Regime. Seitdem hat der Alleinherrscher im Kreml solche Proteste und die Opposition wie im Falle Alexej Nawalnys vergiften oder einsperren lassen oder anderweitig mundtot gemacht (Auffällig viele hochrangige Russen sind in den letzten zwei Jahren aus Fenstern oder sonstwo heruntergefallen). Und er hat die Zivilgesellschaft schrittweise demontiert.
Hätte Putin militärisch Angst, hätte er nicht ausgerechnet in den gefährdetsten Teilen Russlands – in der Exklave Kaliningrad etwa – die eigenen Grenzen entblößt und die Truppen auf ein Minimum reduziert. Sie kämpfen längst in der Ukraine. Wer wäre so dumm, das zu tun, wenn er Angst vor einem Angriff der Nato haben müsste?
All das ist reine Kreml-Propaganda. Dabei tut der ehemalige KGB-Agent ständig so, als sei die Nato längst Kriegspartei. Warum tut er das? Wie bei den Atomwaffendrohungen geht es darum, uns Angst zu machen und über Umwege seine Narrative zu platzieren – zum Beispiel jener Unsinn, als seien alle anderen gegen den Frieden (oder für eine Verlängerung des Krieges), nur Russland nicht. Als sei Russland hier das Opfer, das keine Wahl gehabt habe. Oder als müssten die Briten jetzt Eichhörnchen essen, weil die Sanktionen gegen Russland nicht wirkten, wie es vor Kurzem im russischen Staatsfernsehen zu sehen war. All das ist blanker Unsinn! Es ist klassisches Propaganda-Framing: Eine Umdeutung, eine Täter-Opfer-Umkehr, wie sie nicht nur der KGB und seine heutigen Nachfolgeorganisationen wie der FSB, sondern auch Desinformationskampagnen in den sozialen Medien regelmäßig benutzen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Briten essen natürlich keine Eichhörnchen in Restaurants, sondern die russische Wirtschaft bricht immer mehr zusammen – selbst nach den offiziellen Zahlen. Hierin besteht die Chance.
Niemand außer Putin wollte und will diesen Krieg, der schon 2014 mit der Besetzung der Krim begonnen hat – sicher nicht zufällig nach Janukowitschs Absetzung. Damals schon hat der Westen an der Ukraine vorbei Frieden mit Putin gemacht. Aber die Krim hat Putin nicht gereicht. Der schwache Widerstand des Westens hat ihm signalisiert, dass er sich mehr nehmen kann. Genau das tut er jetzt. Er allein ist der Aggressor. Die Ukraine will nur möglichst viel von ihrem Land zurück und hat auch jedes Recht dazu. Und jetzt fordern hierzulande wieder Menschen unter dem Deckmantel des Pazifismus einen Frieden um jeden Preis und auf dem Rücken der Ukraine – sei es aus Angst oder aus egoistischen Motiven angesichts gestiegener Energiepreise, oder sei es tatsächlich einfach aus dem Wunsch nach Frieden.
Keine Frage: Waffenlieferungen sind eine schwierige und schmerzliche Sache. Aber würde man wirklich auf dem Schulhof zulassen, dass ein weit größerer und stärkerer Angreifer einen Schwächeren einfach so verprügelt? Würde man wegschauen oder einfach so zuschauen, wie er tagtäglich angepöbelt und unterdrückt würde, oder würde man nicht zumindest etwas Zivilcourage zeigen und dem Schwachen helfen, sich zu verteidigen – ohne selbst anzugreifen? Solche Vergleiche sind immer schwierig – aber auch für die Hilfe für Schwächere finden sich sicher unzählige Bibelstellen.
Noch einmal: Den Wunsch nach Frieden hat so gut wie jeder. Er ist für sich genommen richtig und verständlich. Aber es geht eben nicht um Frieden als reines Gut, sondern um die aktuelle Situation: Soll man Putin einen Frieden um jeden Preis servieren, der ihm wieder alles gibt, was er will – oder zumindest das, mit dem er sich angesichts des katastrophalen Bildes, das sein Militär seit über einem Jahr abgibt, gerade noch so anfreunden kann? Man würde vielleicht auf beiden Seiten Leben retten – Russland ist nicht Putin. Aber das lässt jeglichen Gedanken an so viele Menschen in der Ukraine und letztlich auch ganz Europa außen vor, die mit den Konsequenzen eines aufgezwungenen Friedens unmittelbar leben müssten. Und wer so moralisch mit hehren Werten wie Frieden argumentiert, müsste sich doch ebenso ethisch-moralisch auch die Frage nach Gerechtigkeit stellen: Darf man das einfach so über die Köpfe der Ukrainer hin beschließen und sie zu Verhandlungen zwingen? Solange Russland Putins Unrechtsregime nicht selbst Einhalt gebietet, muss zumindest die freie Welt für ihre Werte einstehen – statt sich aus Eigennutz wegzuducken, so wie Putin das wohl fälschlicherweise angenommen hatte.
Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen an Putin?
Sein Minimalziel sind nicht die Grenzen vor Kriegsbeginn vor gut einem Jahr, sondern neben der Krim mindestens die vier weiteren im Herbst überhastet und völkerrechtswidrig annektierten Gebiete, die ja wie Cherson als Hauptstadt einer der vier Regionen zu einem beträchtlichen Teil noch gar nicht russisch besetzt sind, die die Ukraine also erst einmal freiwillig herschenken müsste. Das wäre in etwa so, als würde Deutschland gezwungen, Putin zum Beispiel Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen einfach so kampflos überlassen, obwohl er Franken und Baden noch gar nicht erobert hätte – und dazu noch die Halbinsel Krim, also in unserem Fall, sagen wir, Sylt oder besser Rügen? Was würden wir denn sagen, wenn die Ukraine oder Frankreich, Großbritannien und Italien oder die USA über unsere Köpfe hinweg sagen würden: Putin, wir wollen Frieden, nimm es dir! Es wäre ein Hohn für die Ukraine, für ihre Bewohner und ihre Kriegsopfer.
Nichts anderes fordert die angebliche Friedensbewegung, die so gesehen keine wirkliche ist: Es ist eher eine Kapitulationsbewegung: Sie fordert – ob sie es nun weiß und will oder nicht – die Teil-Kapitulation der Ukraine, wie sie vor dem Krieg existiert hat: die Unterwerfung unter Putin und die Wiedereingliederung in die postsowjetische, von Putin so oft propagierte „russische Welt“ – ihre eigene Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt und in der man das Öl- und Gasmonopol hat und es keine freie Meinungsäußerung gibt. Wer dort nach Frieden ruft, wird gerade eingesperrt. Das ist es, was Putin will. Er hat es oft genug gesagt. Der Untergang der Sowjetunion sei die „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, so seine Worte. Zur Sowjetunion gehörte die ganze Ukraine – und viel mehr, wie auch wir Deutschen wissen. Putin war KGB-Agent in Dresden. Er will zurück zur Politik dieser Blöcke oder „Einflusssphären“.
Hätte sich die Ukraine Putin unterwerfen wollen, hätte sie schon nach Wochen kapituliert. Aber sie wollte nicht. Die Ukraine hatte auch vor dem Krieg genügend Probleme und war sicher nicht in allen Belangen ein Vorzeigestaat. Aber sie wollte auf keinen Fall Teil des russischen Unrechtsregimes werden, in dem ihre Sprache und Kultur komplett ausgelöscht worden wären. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben ein Recht darauf, selbst maßgeblich zu entscheiden, was mit ihm passiert – und nicht eine angebliche „Friedensbewegung“, die in Wirklichkeit – sei es auch politischen Erwägungen heraus, wie Sahra Wagenknecht, oder aus anderen Gründen – eher eine „Kapitulationsbewegung“ ist. Ob sie es nun will oder nicht: Sie ist Teil der russischen Kalkulation, die unsere freiheitlich-demokratische Ordnung für schwach hält und hofft, dass die Bilder von Butscha schon wieder vergessen sind und unsere Unterstützung für die Menschen in der Ukraine weiter bröckelt. Und sie wird zum Teil der russischen Propaganda.
Friedensrufe hin oder her – jeder kann, darf und sollte natürlich für Frieden sein und darf natürlich auch hoffen, dass möglichst bald Friedensverhandlungen beginnen und der Krieg möglichst schnell und glimpflich endet. Daran ist überhaupt nichts auszusetzen. Aber Forderungen nach Frieden um jeden Preis, eine zumindest teilweise Kapitulation, ist etwas anderes – sie würde für uns so weit weg vermeintlich für Ruhe sorgen, aber für die Menschen vor Ort kann sie sehr, sehr viel Leid verursachen. Wer Vorträge dazu hält, sollte diesen Unterschied zumindest mitdenken und auch ausführlich erklären, was ein Frieden um jeden Preis, oder besser gesagt eine Teil-Kapitulation, zum jetzigen Zeitpunkt bedeuten würde.