Für unsere auswärtigen Leser – ein aktueller Beitrag aus dem Eichstätter Journal:
Warum? Diese Frage hat sich Katharina Schmidt schon als kleines Mädchen immer wieder gestellt – in unterschiedlichen Versionen: Warum wollten meine Eltern mich nicht? Was war mit mir verkehrt? Irgendwas musste ja mit ihr nicht stimmen, wenn sie sie einfach so hergegeben hatten. So wie ihr geht es vielen Adoptierten, die oft schwer mit ihrem Schicksal zu kämpfen haben. Auch wenn sie glücklich und behütet aufwachsen und ihren Adoptiveltern zutiefst dankbar sind wie Schmidt selbst – irgendwie bleiben da immer diese Fragen und Emotionen: das Gefühl, weniger wert und „entwurzelt“ zu sein. Nach vielen Jahren der Suche hat Katharina Schmidt aber erst ihre leibliche Mutter und dann noch mehr zu sich selbst gefunden. Nun gibt sie ihrer Erfahrungen weiter – mit ihrem neu gegründeten Unternehmen berät sie nun zu allen Fragen rund um ein Tabuthema: Adoption.
Von Stephan Zengerle
„Für jede Mariposa und jeden Jonathan, wie auch immer du heißt. Es ist schön, dass du da bist.“ So steht es in dem fröhlichen, bunt illustrierten Kinderbuch, das Katharina Schmidt selbst geschrieben und mithilfe einer professionellen Illustratorin auf den Markt gebracht hat – ein schönes Kinderbuch, das im März auch auf der Leipziger Buchmesse vertreten sein wird. Es handelt von der achtjährigen Mariposa, die erfährt, dass sie eine zweite Mama hat und die irgendwie immer wieder traurig ist – und mit Hilfe des Schmetterlings Lily zu sich selbst findet. Ein Buch, auf das Katharina Schmidt schon ein wenig stolz ist. Schließlich steht es für ihre eigene Lebensgeschichte, für viele mutige Schritte, nervenaufreibende Gespräche, Gedanken, schwierige Recherchen, die sie am Ende zu jener Begegnung geführt haben mit ihrer zweiten Mama, deren Namen sie nicht wusste und die eigentlich ihre erste Mama war. Katharina Schmidt ist adoptiert.
Looking for Home: „Suche nach dem Zuhause“ – so nennt sich ihr erst zu Jahresbeginn frisch gegründetes Unternehmen. Es ist ein sprechender, ein beinahe „autobiografischer“ Name. Sie hat natürlich ein Zuhause, wohnt seit Jahren mit ihren Kindern auf dem Seidlkreuz in Eichstätt. Und in ihrer Kindheit ist sie in der Gemeinde Pollenfeld als Heimat aufgewachsen – „und zwar glücklich und behütet“, wie sie sagt. „Ich hatte eine tolle Kindheit und Meine Eltern waren und sind wunderbar“. Und dennoch: Irgendwie hat immer etwas gefehlt. Denn es gab da noch diese andere „Frau“, von der ihr ihre Eltern von klein auf immer erzählt hatten. „Adoptiert“ sei sie, hatte man ihr irgendwann erklärt. Ein Begriff, mit dem sie ihr ganzes Leben gerungen hat – wie viele Menschen, die ebenfalls einen neuen Vater und eine neue Mutter bekommen haben.
„Keiner hat mich gewollt“, hat sie als junges Mädchen einmal zu ihren Adoptiveltern gesagt. „Aber wir wollten dich doch!“, antworteten die. „Nein, ihr wolltet einfach nur ein Kind“, entgegnete die junge Katharina trotzig. „Das war dann zufällig ich.“ Schon damals wusste sie, dass das unfair war. Es ist ihr damals einfach einmal in ihrer Teenagerzeit herausgerutscht – als die Fragen in ihrem Inneren sie einmal wieder bedrängten. Es war die Zeit, in der ihr langsam klar wurde, dass sie mehr über ihre Wurzeln herausfinden wollte.
„Aus dem Nebel heraustreten“
„Coming out of the fog“ nennen das all jene, die sich wie Schmidt intensiv mit dem Thema Adoption beschäftigt haben: „aus dem Nebel heraustreten“ – so die deutsche Übersetzung. „Das ist der Moment, wenn Adoptierte plötzlich aufwachen und verstehen: ,Oh Gott, ich habe die ganze Zeit so getan, als sei alles ok. Aber in Wirklichkeit ist es das nicht’“, erklärt sie. Das passiere zum Beispiel bei Frauen oft, wenn sie selbst Kinder kriegten. Bei ihr selbst begann es schon in ihrer Teenagerzeit. Sie liebte ihre Eltern, war glücklich mit ihnen. Aber sie konnte nicht anders. Ab und zu waren da einfach diese Gedanken, die irgendwo ganz tief aus ihrem Inneren plötzlich auftauchten.
„Keiner hat mich gewollt“ – „Aber wir wollten dich doch!“ – „Nein, ihr wolltet einfach nur ein Kind. Das war dann zufällig ich.“
Dialog der jungen Katharina Schmidt mit ihren Adoptiveltern
Ich wurde nicht geliebt. Ich bin nicht gut genug. Irgendwie muss ich schuld sein. Solche Gedanken spielen bei Adoptierten im Laufe ihres Lebens immer wieder eine Rolle – egal in welchem Alter. Das weiß Schmidt nicht nur aus persönlicher Erfahrung – sondern auch aus vielen Gesprächen mit Betroffenen, die sie geführt hat. Ihr Leben lang hat sich die heute 37-Jährige mit dem Thema beschäftigt – seit ihre Eltern ihr als kleinem Mädchen von jener anderen Frau erzählt hatten. Als kleines Kind machte ihr das manchmal noch Angst. „Was ist, wenn die Frau kommt und mich holt?“, hatte sie ihre Adoptiveltern sorgenvoll gefragt, die ihr dann versichern mussten, dass sie natürlich bei ihnen bleiben durfte. Später aber wurde sie neugierig, wollte mehr über jene fremde Frau wissen – mehr über sich selbst, über ihre eigene Geschichte erfahren: über ihre Wurzeln.
Völlig „inkognito“ – selbst in der Geburtsurkunde
Doch das war gar nicht so leicht. Geburtsort: unbekannt. Ihre leiblichen Eltern: „Inkognito“ – so steht es an verschiedenen Stellen in den offiziellen Dokumenten. „Bei solchen sogenannten ,Inkognito-Adoptionen’, die in Deutschland immer noch einen Großteil der Adoptionen ausmachen, kann und darf tatsächlich gar kein Austausch stattfinden“, erzählt Schmidt. „Das wollen manchmal die leiblichen Eltern so, um sich selbst zu schützen, weil sie ihr Kind natürlich nicht zum Spaß zur Adoption freigegeben haben.“ Oft seien ganz schwierige Lebens- und Familienverhältnisse das Problem.
Adoptieren ist eine streng regulierte Sache. „Es gibt viele Auflagen. Viele trauen sich gar nicht, diesen Prozess zu gehen“, weiß Schmidt aus vielen Gesprächen. „Sie denken, dass sie sowieso nicht als Adoptiveltern ausgewählt würden, weil es einfach so wenige Kinder gibt, die offiziell zur Adoption stehen.“ Dabei gebe es etwa in Heimen viele Kinder, die dringend ein Zuhause bräuchten. Meistens gehe es dabei darum, das Recht der Eltern aufrechtzuerhalten. „Das ist natürlich wichtig und richtig“, betont sie. Auch sie selbst sehnte sich ja zeitlebens nach ihrer leiblichen Mutter, obwohl sie die nie gesehen hatte.
Aber wenn sich die Eltern über zehn Jahre und mehr nicht um ihr Kind kümmerten und sich nichts verändere, wenn die Mutter immer noch oder wieder im Gefängnis sitze, drogenabhängig sei oder immer noch nicht zu den Besuchsterminen komme, die sie aber andererseits vor Gericht erstreite und das Kind dabei auch immer zu einer Aussage zwinge, müsse man sich schon fragen, was hier wichtiger sei. „Da verstehe ich das Elternrecht manchmal nicht mehr. Ich würde mir wünschen, dass sich da mittelfristig etwas ändert und das Kinderrecht mehr zum tragen kommt.“ Auch mit solchen rechtlichen Fragen hat sie sich intensiv auseinandergesetzt und berät Betroffene – inzwischen mit ihrer Firma „Looking for Home“.
Bei ihrer eigenen Geburt war das alles ganz anders. Ihre leibliche Mutter hatte in der Disko einen US-amerikanischen Soldaten kennengelernt, der in Deutschland stationiert war – es war nicht die große Liebe, nur eine Affäre. Aber plötzlich war sie mit 19 Jahren schwanger. „Besatzungskinder“ hatte man so etwas nach dem Zweiten Weltkrieg verächtlich genannt – und auch Jahrzehnte später war das immer noch ein Tabuthema. So etwas durfte auch damals, im Deutschland, im Franken, im Nürnberg der 80er-Jahre, nicht sein. Der Vater war nicht greifbar, sie wusste nicht viel von ihm, fragte bei den Army-Basen nach, fand ihn nicht. Der US-amerikanische Vater wusste gar nichts von der Schwangerschaft. Aber auch sonst durfte niemand etwas wissen.
Geburt an einem „dunklen Ort“ bei einer „fremden Frau“
Als bei Sabine Z. – so hieß Katharina Schmidts leibliche Mutter – , die zum damaligen Zeitpunkt gerade 20 Jahre alt geworden war, die Fruchtblase platzte, befand sie sich in ihrem Zimmer im Elternhaus. Zuerst traute sie sich gar nicht, etwas zu sagen, weil sie fürchtete, dass es nur zu weiterem Ärger mit der Familie führen könne, so hat sie ihrer Tochter später erzählt. Sie hatte große Angst davor, was jetzt passieren würde. Erst, als sie die Schmerzen schon fast nicht mehr ertragen konnte, rief sie nach ihren Eltern, die sie dann an einen „dunklen Ort“ brachten, wo eine fremde Frau, vermutlich eine Hebamme, war – sonst niemand. Ihre Erinnerungen sind schemenhaft – sie hat vieles verdrängt von jenen traumatischen Ereignissen, über die in der Familie nie wieder gesprochen wurde. Ihre jüngere Schwester fragte einmal nach, wo denn das Kind sei, bekam aber keine Antwort.
Aber Sabine Z. erinnert sich genau, dass sie ihr Baby weder sehen, noch halten durfte. Es wurde ihr einfach weggenommen und aus dem Raum gebracht. Die Schreie ihres Kindes waren das Einzige, was ihr an Erinnerung an ihre Tochter geblieben war – und ein Trauma, das sie begleiten sollte. Sie stürzte sich eine Weile in Alkohol. „Rabenmutter“ habe man sie manchmal hinter vorgehaltener Hand genannt. Schließlich fand sie eine neue Beziehung. Als sie ein Jahr später einen Sohn bekam, Katharinas Bruder, war das anders. Er durfte bleiben, wurde liebevoll in den Armen gewiegt. Katharinas leibliche Großmutter konnte dabei allerdings nicht mehr aufhören zu weinen – sie alle dachten an das Kind, das sie ein Jahr zuvor weggegeben hatten.
Die kleine Katharina, die nun Schmidt hieß und nicht mehr Z., wusste von alledem nichts. Sie wuchs in einem Ortsteil der Gemeinde Pollenfeld auf. Erst Jahre später begann sie, nach den damaligen Ereignissen zu fragen, zu recherchieren. Aber wo ansetzen, wenn man nicht einmal einen Namen hat? Entweder gar keine oder sogar widersprüchliche Daten: „Laut meiner Geburtsurkunde wurde ich um 7.02 Uhr morgens geboren. In meiner Adoptionsakte des Sozialdienstes, über den ich damals vermittelt wurde, steht 7.03 Uhr. Auf meinem Untersuchungsheft, das für gewöhnlich direkt nach der Geburt angelegt wird, weil sofort die Erstuntersuchung, die U1, stattfinden sollte, steht 7.09 Uhr“, schreibt sie in ihrem zweiten Buch – einer Autobiographie, in der sie inzwischen auch ihre Erfahrungen zu Papier gebracht hat und für das sie gerade einen Verlag sucht.
Trauma und „Urwunde“
Auch hier möchte sie mit ihrem Adoptions-Start-up ansetzen – die Betroffenen begleiten. Denn all das seien hochemotionale Erlebnisse und Vorgänge, die alle Beteiligten ein Leben lang prägten. Vor allem das Kind. Selbst ein Baby, das sich an nichts davon bewusst erinnern könne – aber unterbewusst, da ist sich Katharina Schmidt sicher. Sie hat sich viel zum Thema Adoption ausgetauscht, hat viel darüber gelesen – alles, was sie in die Finger bekommen konnte, auch wenn es in Deutschland kaum fundierte Literatur dazu gebe. Sie hat Coaching-Ausbildungen gemacht, hat mit Behörden gesprochen, steht mit Einrichtungen in Kontakt, die sie nun einladen wollen, damit sie jungen Pädagogen erklärt, dass es eben nicht so einfach getan ist mit jenem „Elternwechsel“.
„Traumatisierung ist die passende Antwort auf die zerstörerischste Erfahrung, die man überhaupt haben: den Verlust der Mutter.“
Nancy Newton Verrier, Verfasserin mehrerer Bücher über Adoption
„Es ist wichtig, zu erkennen, dass der Adoptierte anwesend war, als der Austausch der Mütter stattfand. Die Erfahrung war real“, heißt es in einem der bekanntesten Bücher zu dem Thema. „The Primal Wound“ heißt das Buch von Nancy Newton Verrier: „Die Urwunde“, wie die deutsche Übersetzung etwas sperrig lautet. In ihren Büchern spricht die US-Autorin von Traumatisierung, die die Gefühle auslösen könne, die Katharina Schmidt auch kennt. Die seien nicht unnormal, krank oder verrückt, sagt Verrier. Sie seien vielmehr „die passende Antwort auf die zerstörerischste Erfahrung, die man überhaupt haben: den Verlust der Mutter.“ Diese pränatale Beziehung zwischen Mutter und Kind sei einfach da und durch nichts zu ersetzen – davon ist auch Schmidt fest überzeugt.
Acht Jahre lang keine Antwort von der leiblichen Mutter
Nicht nur in Sachen Literatur wurde die Eichstätterin in den USA fündig – sondern auch, was ihre Wurzeln angeht. Die Spurensuche nach ihrer eigenen Vergangenheit gestaltete sich zunächst schwierig. Als sie mit 20 ihre Tochter Lara bekam, kam das Thema ihrer eigenen Geburt noch stärker auf, und so traf sie sich schließlich mit ihrem leiblichen Opa in Nürnberg, der ihr erstmals von den Umständen ihrer Geburt erzählte – und ihr auch die Adresse ihrer leiblichen Mutter gab, die inzwischen in den USA lebte. Mit 21 schrieb sie einen ersten Brief an die Frau, deren Namen sie nun endlich wusste. Nicht nur auf diesen Brief, sondern auch auf alle anderen bekam sie aber keine Antwort. Acht Jahre lang.
Dann aber kam jener Tag, als plötzlich eine Nachricht auf Facebook von jener Frau aus den USA einging, die ihr mitteilte, dass sie in drei Wochen mit ihrem Mann nach Deutschland komme und sie treffen wolle – die Frau mit dem Namen ihrer leiblichen Mutter. Und so lernte Katharina Schmidt mit 29 ihre zweite Mutter kennen. „Ich war total aufgeregt“, erinnert sie sich an den Moment, als es plötzlich an der Tür ihrer Wohnung auf dem Seidlkreuz in Eichstätt klingelte, als sie plötzlich vor ihr stand, und all die Momente danach, die sie nie vergessen wird.
Erst war da diese Distanz – schließlich hatte man sich noch nie gesehen. Katharina Schmidt wich zurück, als die Fremde sie umarmen wollte. Doch irgendwie war da auch gleich das Gefühl von Vertrautheit. Es folgten annähernde Gespräche und viele, viele Tränen. Und irgendwann fielen sie sich doch in die Arme – Katharina Schmidt und ihre leibliche Mutter. Für die Eichstätterin war das einer der bedeutendsten Momente in ihrem Leben: Als sie ihre „zweite Mama“ endlich kennenlernte, war plötzlich etwas wieder ganz. Vieles machte auf einmal Sinn, sie bekam viele Antworten auf die Fragen, die sie schon immer mit sich herumgetragen hatte.
Ihre Mutter berichtete ihr, wie sie mit dem Vater ihres Bruders in die USA gegangen war. Wie er sie misshandelt, sie krankenhausreif geschlagen hatte – wie sie dabei gedacht hatte, das sei die gerechte Strafe dafür, dass sie nicht mehr um ihr erstes Kind gekämpft hatte, dass sie zugelassen hatte, dass man es ihr wegnahm. Sie erzählte ihr davon, wie sie ihre Briefe bekommen hatte, wie sie sie gelesen und dann drei Tage lang immer wieder geweint hatte und fix und fertig war vor Schuldgefühlen. Wie sie sie in eine Schublade gesteckt und ihr Leben weitergelebt hatte. Wie sie sich von jenem Mann getrennt hatte, sich das alleinige Sorgerecht für Katharinas Bruder erkämpft hatte und wie sie schließlich ihren jetzigen Mann gefunden hatte, mit dem sie inzwischen seit weit über 20 Jahren glücklich verheiratet ist.
Und dann wollte sie auch ihren leiblichen Vater finden. Es gab kaum Ansatzpunkte. Niemand wusste etwas, keiner konnte ihr helfen – alles blieb zunächst „inkognito“. Bis Katharina Schmidt über einen DNA-Test und Stammbaum-Suchprogramme im Internet doch noch auf die richtige Spur stieß – ebenfalls in den USA. Auch ihn hat sie gefunden, hat ihre Brüder kennengelernt. Sie hat erfahren, dass Menschen manchmal irrationale Dinge tun, dass sie manchmal Opfer der Umstände sind, dass sie manchmal nicht aus ihrer Haut können, Fehler machen – und sie später bitter bereuen.
2020 3.774 Kinder adoptiert
„Sie war sehr, sehr aufregend und aufwühlend, diese Wurzelsuche“, erinnert sich Katharina Schmidt heute schmunzelnd. Sie hat längst ihren Frieden mit ihrer Vergangenheit gemacht, ist froh, dass sie nun ihre Wurzeln kennt. Und sie möchte anderen Menschen dabei helfen, sie ebenfalls zu finden oder nicht dieselben Fehler zu machen wie so viele andere vor ihnen. Denn es sind Tausende von Kindern, leiblichen Eltern und Adoptiveltern, die davon jedes Jahr neu und letztlich ihr ganzes Leben lang betroffen sind. 3.774 Kinder wurden nach Angaben des statistischen Bundesamtes im Jahr 2020 adoptiert (siehe Grafik unten) – knapp die Hälfte davon im Alter von unter drei Jahren.
2010 waren es noch 4.021 Adoptivkinder. Im Jahr 1993 waren es sogar noch 8.687 Kinder, wovon 4.071 mit keinem Elternteil verwandt waren. Zu ihrem Geburtsjahr 1984 gebe es keine genauen Aufzeichnungen. Die Zahl der Adoptionen in Deutschland sei in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken, auch aufgrund von neuen Kinderwunsch-Behandlungsmethoden – während die Zahl der Heimkinder immer weiter gestiegen sei. Derzeit leben rund 64.000 Kinder und Jugendliche in Heimeinrichtungen oder Kinderdörfern. Gleichzeitig habe es im Juli 2021 883 zur Adoption vorgemerkte Kinder und Jugendliche gegeben, weiß Schmidt aus ihren Recherchen. Nach wie vor aber gebe es deutlich mehr Eltern mit unerfülltem Kinderwunsch – wie ihre eigenen Adoptiveltern damals.
Ihre Adoptivmutter hat ihr einmal erzählt, dass das Schlimmste für sie nicht ihre Krebserkrankung gewesen sei oder die Tatsache, dass sie daran vielleicht hätte sterben können. Das Schlimmste für sie wäre es stattdessen gewesen, ohne Kinder weiterzuleben. Mit Anfang 20 war sie schwer an Krebs erkrankt. Neben der Chemotherapie und anderen Maßnahmen musste ihr die Gebärmutter entfernt werden. Und so waren sie und ihr Mann mit der schmerzhaften Realität konfrontiert, niemals Kinder bekommen zu können. Die junge Frau belastete das schwer, sie war traurig, zog sich zurück, musste zusehen, wie andere Frauen im Dorf Kinder bekamen, während ihr ihr sehnlichster Wunsch verwehrt bleiben würde. Und so entschieden sich die beiden, sich als Adoptiveltern zu bewerben. Die Adoptionsstelle aber machte ihnen wenig Hoffnung. Sie müsse erst einmal fünf Jahre krebsfrei sein, um die Möglichkeit einer Adoption überhaupt in Betracht ziehen zu können.
Plötzlich Eltern statt Urlauber
So verging viel Zeit. Doch irgendwann ging plötzlich alles ganz schnell: Das Paar war im Sommer 1984 gerade beim Camping-Urlaub in Italien, als der Anruf kam – die Eltern waren nicht da, Handys noch in weiter Ferne, doch die Oma war glücklicherweise da und ging ans Telefon: „Wir haben ein Kind für sie“, hieß es ohne jede Vorwarnung. Über einen Zettel am Campingwagen erfuhren die Strandurlauber schließlich, dass sie zu Hause anrufen sollten. Nach dem Anruf bei der Oma brachen sie sofort den Urlaub ab, fuhren noch in derselben Nacht zurück nach Deutschland und hatten genau einen Tag Zeit, sich darauf vorzubereiten, dass sie nun Eltern sein würden. Sie kauften schnell Kleidung und Babybedarf ein und trafen einen Tag später die Mitarbeiterin der Adoptionsstelle.
„Meine Mama ist für immer meine Mama, und daran hat sich nichts geändert, seit meine leibliche Mutter wieder in mein und dadurch auch in unser Leben gekommen ist.“
Katharina Schmidt
Gemeinsam mit ihr fuhren sie in die Klinik, durften niemandem dort ihren Namen verraten – schließlich handelte es sich um eine geschlossene Adoption: „Inkognito“. In einem Raum wurde ihnen dann ihr Kind übergeben, sie durften sie füttern und die Kleidung wechseln und fuhren reichlich überfordert wieder nach Hause – statt Italienurlauber waren sie nun Eltern einer kleinen, wenige Tage alten Tochter. Glückliche Eltern. Eigentlich wollten sie das Kind Maria taufen. Aber weil die leibliche Mutter ihr Kind in jenen kurzen Momenten Kathrin genannt hatte, nannte man sie mit Respekt davor Katharina Maria.
Katharina Schmidt, die somit ihren Vornamen ein Stück weit ihrer leiblichen Mutter, ihren zweiten Vornamen und den Nachnamen ihren Eltern verdankt, ist froh, dass es so gekommen ist. Sie ist aber auch froh, dass sie nachgeforscht und recherchiert hat, dass sie auch ihre leiblichen Eltern, ihre andere Familie, kennengelernt hat. Auch die beiden Mamas kennen sich inzwischen, verstanden sich gut und bedankten sich gegenseitig – „für mich der emotionalste Moment überhaupt“, erinnert sich Schmidt.
„Danke, dass du Katharina zur Adoption freigegeben hast, sonst hätten wir nie unsere Tochter bekommen“, sagte ihre Mama zu Sabine, der leiblichen Mutter. „Meine Mama ist für immer meine Mama, und daran hat sich nichts geändert, seit meine leibliche Mutter wieder in mein und dadurch auch in unser Leben gekommen ist.“ Unsere Beziehung hat sich durch die Ehrlichkeit und Transparenz sogar noch vertieft. Es ist gut so, wie es gekommen ist, findet Katharina Schmidt. Die inneren Fragen und Gefühle, die sie als junge Frau immer wieder geplagt haben, sind beantwortet und zur Ruhe gekommen.
Hilfe im „Adoptionsdreieck“
All das, was sie auf dem Weg bis dahin gelernt hat, all das, was sie recherchiert hat, was sie über Gespräche herausgefunden hat, möchte sie nun mit ihrem gerade erst zum Jahresanfang gegründeten Unternehmen „Looking for Home“ weitergeben. In Seminaren, Coachings oder Onlineveranstaltungen auf Instagram hilft sie Adoptierten in derselben Situation oder zweifelnden Eltern mit vielen offenen Fragen und begleitet sie auf dem Weg zu einem besseren Gelingen inmitten des sogenannten „Adoptionsdreiecks“ – jener nicht immer ganz einfachen „Dreiecksbeziehung“ zwischen leiblichen Eltern, Adoptiveltern und dem Kind.
Denn hier könnten Kleinigkeiten schon sehr verletzend sein, weiß Katharina Schmidt nicht nur aus persönlicher Erfahrung. Manche Adoptiveltern etwa werten die leiblichen Eltern ab – und damit auch das Kind. Manche Adoptierten wiederum verletzten ihre Adoptiveltern oder bezeichneten ihre leibliche Mutter als „den Brutkasten“. Viele trügen eine wahnsinnige Wut in sich, der sie sich manchmal gar nicht bewusst seien, die sich aber auf das Umfeld auswirke.
Und es stellen sich viele Fragen: Wann sagt man dem Kind, dass es adoptiert ist? „Von Anfang an“, lautet hier die klare Antwort. Denn wenn man es später, oft erst im Erwachsenenalter erfahre, sei das ein wahnsinniger Vertrauensbruch: Das Ganze Leben fühle sich dann plötzlich an wie eine Lüge. Oft führe das zum Bruch mit den Adoptiveltern, weiß Schmidt. Das empfiehlt auch das Bundesfamilienministerium in einer Broschüre zum Thema Adoptionen: „Das ist sehr wichtig für die Entwicklung Ihres Kindes. Es trägt ganz wesentlich dazu bei, dass Ihr Kind eine gefestigte Persönlichkeit ausbilden kann. Dazu gehört bei jedem Menschen die eigene Lebensgeschichte. Deswegen hat Ihr Kind auch ein Recht darauf, etwas über seine Abstammung zu erfahren.“
„Seelenaufgabe und Herzensmission“
Abgesehen von solchen Broschüren aber gebe es für die Betroffenen kaum Hilfestellung und Begleitung – schon gar nicht durch geschultes Personal. Diese Lücke will Katharina Schmidt füllen. Wenn ihr jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, dass sie sich als alleinerziehende Mutter einfach so selbstständig machen würde, hätte sie das nie geglaubt, sagt sie. Aber aus ihrer eigenen Suche und ihren Erfahrungen sei inzwischen irgendwie „meine Seelenaufgabe und Herzensmission geworden“. Denn – davon ist sie fest überzeugt – mit der richtigen Unterstützung wie in ihrem Kinderbuch durch Schmetterling Lily, gelingt es nicht nur Mariposa, ihr inneres Glück zu finden, sondern auch allen anderen.
Als Katharina Schmidt 2020 als ehemals anonym Adoptierte gemeinsam mit ihrer leiblichen Mutter in ihrer Adoptionsstelle in Nürnberg auftauchte und ihre Akten einsehen wollte, war die Behördenvertreterin erst ganz entgeistert und sagte dann völlig begeistert: „Das habe ich noch nie erlebt. Seit 30 Jahren habe ich mir so etwas gewünscht.“ In den Akten fand Katharina noch den allerersten Brief, den sie 2001 als 17-Jährige an ihre Eltern geschrieben hatte – damals noch adressiert an die Adoptionsstelle. Die sei eigentlich verpflichtet, solche Briefe weiterzuleiten. Doch da lag er immer noch. Doch Schmidt hatte weder damals noch später aufgegeben und so ihre Mutter längst auf eigene Faust gefunden. Als sie den Brief gemeinsam lasen, war es für beide berührend – und für Katharina Schmidt einer von jenen Momenten, für die sich all das gelohnt hat.