Wie VW-Chef Herbert Diess VW umbaut und mit „Cariad“ unter anderem aus Ingolstadt zum Nabel der Mobilitätswelt der Zukunft machen will
Vier riesige einander zugewandte U-förmige Gebäude stehen für ein Stück Zukunft des VW-Konzerns. Es ist die erste von drei Baustufen auf dem IN-Campus, dem ehemaligen Bayernoil-Gelände nahe des Audi Sportparks. Am Ende soll auf dem 75 Hektar großen Gelände mit eigenem Autobahnanschluss ein riesiger, offener Technologiepark entstehen – und ein neues Herzstück für den VW-Konzern: „Cariad“ so lautet der neue Name eines Teils seines Konzerns, dem VW-Chef Herbert Diess trotz seiner bis dato vergleichsweise geringen Größe viel öffentliche Aufmerksamkeit widmet: Software, so betont er immer wieder, werde in den Kern der Automobilindustrie rücken – und damit auch Cariad, die inzwischen gebündelte, zentrale Softwareeinheit des VW-Konzerns. Und der IN-Campus.
Wie Herbert Diess sich die Zukunft für VW vorstellt, kann man aus berufenem Munde erfahren: von Herbert Diess selbst. Der Volkswagenchef bewegt sich in seiner Öffentlichkeitsarbeit ein Stück weit auf Elon Musk zu. Er twittert jetzt, lud den exzentrischen Tesla-Chef zu VW ein und veröffentlicht inzwischen auch regelmäßig kurze Videos, in denen er selbst Manager aus dem VW-Konzern interviewt und genau die Fragen stellt, die ihn auch bewegen.
„Wir waren sehr erfolgreich in 2019. Aber 2019 oder 2020 sagen in unserer Branche nichts über 2025 und 2030 aus, weil wir uns so schnell verändern. Und der Wandel in der Automobilindustrie ist wahrscheinlich noch größer, als das, was du erlebt hast.“, sagt er zu Microsoft-Chef Satya Nadella – und vergleicht Volkswagen mit dem erfolgreichen, aber „ein wenig bürokratischen, selbstzufriedenen, konservativen“ Microsoft von einst, bevor Nadella es wieder agil und innovativ gemacht habe. In dieser Rolle sieht Diess sich ganz offensichtlich auch bei Volkswagen. Er nickt immer wieder zustimmend und lächelt, wenn Nadella anschließend Tipps gibt, wie man solchen Wandel in einem Unternehmen erreichen könne: durch Zielorientierung, überzeugende Führungskräfte, die Vermittlung einer Mission etwa – ein ideales Schulungsvideo für Manager.
„Viel zu langsam“
Es zeigt aber auch, wie Diess den VW-Konzern sieht: „viel zu langsam“ sei der Wandel, und man müsse zu einem softwaregetriebenen Unternehmen werden. Deshalb hat Diess die Softwareeinheiten im Konzern gebündelt und sie in einer zentralen, eigenen Einheit zusammengeführt. Gerade erst wurde die „Car.Software-Organisation“, so der bisher etwas sperrige Name, in Cariad SE umbenannt – ein weiterer Schritt auf dem Weg des neuen Unternehmens zu einer Art 13. Marke im Konzernverbund.
Die Anfangsphase des eigenständigen Unternehmens hatte sich allerdings nicht ganz einfach gestaltet: Schon rund zwei Wochen nach dem Start der Car.Software-Organisation im Juli 2020 musste deren Chef Christian Senger bereits wieder gehen. Software-Probleme insbesondere beim ID.3 wurden als möglicher Grund genannt. Insider berichten aber davon, dass der Fachmann mit seiner Kommunikation im VW-Konzern mit seinen vielen Reichen und Pfründen angeeckt sei. Zudem hatte Diess seinen Vertrauten aus gemeinsamen BMW-Zeiten Markus Duesmann nicht nur zum Audi-Chef ernannt, sondern zudem die konzernweite Forschung und Entwicklung. Er ist zudem der Aufsichtsratsvorsitzende der Cariad SE. Mit Dirk Hilgenberg ist ein weiterer ehemaliger BMW-Manager auf Senger an die Spitze der Softwareeinheit gerückt.
Nun also die nächste Transformation: Der neue Name „Cariad“, ein Akronym, der für „Car, I am Digital“ stehen soll – „Auto, ich bin digital“. Und auch die Rechtsform hat sich geändert: Aus der GmbH wird eine europäische Aktiengesellschaft SE. Das ermögliche eine „moderne, für die Softwareentwicklung maßgeschneiderte Mitbestimmung auf Aufsichtsrats- und Betriebsratsebene zu gestalten“, hieß es. In der Gesellschaft, die zunächst als Car.Software-Organisation ursprünglich bei der Audi Electronic Ventures GmbH angekündigt war, sind im Herbst 2020 unter anderem das er Software-Unternehmen TKI und die Audi Electronics Ventures GmbH mit Sitz in Gaimersheim aufgegangen. Als eigenständiges Unternehmen könnte Cariad seine Leistungen wohl auch einfacher außerhalb des VW-Konzerns vermarkten.
Die neue, gebündelte Softwareeinheit soll Fahrt aufnehmen und den Rückstand, den man etwa auf Tesla hat, wie auch Hilgenberg offen zugibt, schnell aufholen. Was die Stückzahlen bei den ausgelieferten Elektrofahrzeugen angeht, wird VW mit neuen Modellen wie den inzwischen erfolgreich gestarteten ID.3, ID.4 oder dem Audi e-tron GT, dem zusätzlich zu bereits bestehenden Fahrzeugen wie dem Porsche Taycan zu Tesla aufschließen. Was die Software angeht, wird das wohl noch eine ganze Weile dauern.
„Software auf Rädern“, so hat die Süddeutsche Zeitung vor Kurzem getitelt, als sie über Herbert Diess und seine Pläne für Volkswagen berichtet hat. „Smartphone auf Rädern“, so hat es Diess selbst genannt. Die Idee hinter dieser Metapher ist die, die auch die Digitalriesen aus dem Silicon Valley wie Google, Amazon oder Apple in die Mobilitätswelt von morgen drängen lässt: Das Auto wird nur zu einem weiteren „mobilen Endgerät“ mit dem sich Daten sammeln lassen – wie das Smartphone eben. Mit den entsprechenden Konsequenzen für die Geschäftsmodelle der Zukunft: Das Geld wird in Zukunft nicht mehr vorrangig mit Ingenieurskunst oder guten Spaltmaßen verdient, sondern mit den Daten und Dienstleistungen, die in autonom fahrenden Autos vermarktet werden können – so die Überlegung.
So wie Google längst mit seiner Navigationssysteme beherrscht. Nur so lässt sich auch der exorbitante Börsenwert von Tesla erklären: Weil man Elon Musks Unternehmen eben nicht als reinen Automobilhersteller sieht, sondern als vernetzten und extrem dynamischen Softwarekonzern und Batteriehersteller. Doch Volkswagen holt auf – auch nicht nur, was den Börsenwert angeht, hat sich der deutsche Automobilriese auf Jahressicht deutlich besser entwickelt als der vorherige Börsenüberflieger Tesla.
„Wenn es um Software und Computer geht, sind wir wirklich Anfänger“
Nun will man auch in Sachen Software aufholen und eine firmeneigene und markenübergreifende Softwareplattform aufbauen. Sie soll eine einheitliche Architektur, ein Betriebssystem und eine Automotive Cloud für alle Marken umfassen und bis 2024 fertig sein. Cariad soll außerdem digitale Funktionen für das Fahrzeug programmieren, unter anderem Fahrassistenzsysteme und eine standardisierte Infotainmentplattform. Bisher sind nach Konzernangaben nur rund zehn Prozent der Software in den Fahrzeugen selbst geschrieben. Der Anteil der Eigenfertigung aber solle bis 2025 auf rund 60 Prozent steigen. Der enorme Aufwand soll sich durch die Skalierung im größten Automobilkonzern der Welt in Zukunft rechnen – und vor allem dafür sorgen, dass Volkswagen nicht in Abhängigkeit von großen Digitalkonzernen gerät.
Denn auch die großen Digitalkonzerne aus den USA oder China drängen in den Markt, dominieren nicht nur den Markt der Navigationssysteme, wo die deutschen Automobilhersteller gemeinsam mit ihrer Tochter „Here“ versuchen, dagegenzuhalten. Sie sind wie Google mit seiner Tochter Waymo oder das chinesische Pendant Baidu bereits sehr weit, was autonomes Fahren angeht und was andere Software in modernen Fahrzeugen angeht. Und wer die Daten und damit die Geschäftsmodelle der Zukunft kontrolliert, kontrolliert auch den Großteil der Wertschöpfung und die Vermarktung. Wer da nicht mithalten kann, dem droht ein Schicksal als Auftragsfertiger beispielsweise für Apple. Auch dafür wurde neben Hyundai und Kia auch über BMW oder Volkswagen als möglicher Partner spekuliert.
Nun versucht Volkswagen selbst im Kern zu einem „software-getriebenen Unternehmen“ zu werden, wie Diess in jenem Video im Gespräch mit Satya Nadella sagt: „ein Unternehmen, das in der Lage ist, Millionen von mobilen Geräten zu betreiben, sie Tag für Tag zu aktualisieren, sicherzustellen, dass sie bequem und sicher sind und dem Kunden ein gutes Erlebnis bieten – das ist eine gewaltige Herausforderung für uns. Denn wenn es um Software und Computer geht, sind wir wirklich Anfänger. Autos sind bereits komplexe Softwareprodukte. Aber bisher machen wir viel mit externen Anbietern, sehr fragmentiert, und wir müssen uns dramatisch verändern.“
Mehr als 5000 Mitarbeiter bis Jahresende
Damit das erreicht werden kann, soll Cariad massiv weiter wachsen. Rund 4000 Mitarbeiter hatte das Unternehmen zu Jahresbeginn. Mehr 2000 Mitarbeiter waren aus verschiedenen Software-Einheiten im VW-Verbund gekommen, von Audi, Porsche und der Marke Volkswagen. Weitere rund 1200 seien aus eingegliederten Unternehmensbeteiligungen wie Carmeq in Berlin oder TKI in Gaimersheim in die neue Einheit gewechselt. Mehr als 500 weitere kamen über ein massives Einstellungsprogramm hinzu. Man suche Talente auf der ganzen Welt und stoße dabei selbst im Silicon Valley auf erstaunlich großes Interesse, so Hilgenberg. Auch in China als dem größten Markt des Volkswagenkonzerns und zugleich „Technologie-Trendsetter“ in vielen Bereichen aufgrund seiner technologieaffinen Gesellschaft werde man seine Tätigkeitsfelder ausbauen, teilt der Konzern auf Anfrage des Eichstätter Journals mit.
„Einer der größten Softwarekonzerne Europas“
Bis Ende des Jahres soll die Zahl der Mitarbeiter bereits bei über 5000 liegen. Mittelfristig sollen es insgesamt sogar 10.000 werden. Damit werde VW zu einem der größten Softwarekonzerne Europas, so Diess bei der Vorlage der Jahreszahlen vor Kurzem. Nur SAP und Bosch, das mit seinen 17.000 Softwareentwicklern ebenfalls im Automobilbereich tätig ist, sind da noch größer. Allein das zeigt, welchen Kraftakt VW hier in Sachen Software binnen relativ kurzer Zeit vollziehen will. Hinzu kommen Beteiligungen an 15 Tech-Unternehmen. Das zeigt auch, wie groß der Koordinierungs- und Integrationsaufwand des dezentral organisierten Unternehmens mit Standorten in Wolfsburg, Ingolstadt, Stuttgart, Berlin, München sowie Entwicklungsteams in China, dem Silicon Valley und Seattle sein dürfte. In Seattle hat man auch in Kooperation mit Microsoft die Volkswagen Automotive Cloud etabliert, die „integraler Bestandteil des Entwicklungs- und späteren Geschäftsmodells“, sein soll, wie VW mitteilt.
Allein durch die Integration von TKI und Audi Electronic Ventures sitzt bereits heute ein nicht unerheblicher Teil von Cariad im Raum Ingolstadt. Ein Teil davon sei bereits iauf den IN-Campus umgezogen, wo am dortigen Tech-Campus ein Schwerpunkt von Cariad liegen könnte – so hofft man in Ingolstadt. das wäre ein enormer Standortfaktor für die Region Ingolstadt – insbesondere da durch den Wegfall des Verbrennermotors, dessen Entwicklung man bei Audi in zwei Jahren einstellen will, Arbeitsplätze bedroht sein könnten. „Auf dem IN-Campus Gelände wird Ingolstadts neue Denkfabrik entstehen, mit klugen Köpfen der Marke Audi und anderen Tech-Unternehmen, mit Wissenschaftlern, Start-ups und Partnerunternehmen. Der Technologiepark bietet den Mitarbeitenden der Cariad ein attraktives und flexibles Arbeitsumfeld und soll in Zukunft ein Begegnungsort für Tech-Experten werden“, so Wolfram Wiesböck, Geschäftsführer IN-Campus.
„Autos werden zu autonomen Geräten“
„Wir müssen von einem Unternehmen, das gut darin ist, Marken zu entwickeln, exzellente Autos zu bauen, gut konstruierte, brillante Autos, hin zu einem Unternehmen entwickeln, das völlig anders läuft, das die mobilen Endgeräte da draußen steuert“, fasst Diess in dem Video mit dem Microsoft-Chef zusammen. „Es wird wahrscheinlich fünf bis zehn Jahre dauern, bis es so weit ist, aber es wird geschehen. Autos werden zu autonomen Geräten und sie werden zu Software-Geräten – also eine gewaltige Veränderung.“ Der ID.BUzz, der 2022 auf den Markt kommt, soll bis 2025 vollautonom fahren können. In Zukunft sollen „Over-the-air updates“, also Softwareaktualisierungen über das Internet, wie man sie bei Apps auf dem Handy, aber auch bei Tesla schon kennt, Realität werden. Auch daran arbeitet man bei Cariad mit Hochdruck.
Dafür nimmt Volkswagen an vielen Fronten viel Geld in die Hand: 73 Milliarden Euro sollen in den nächsten Jahren in Zukunftsthemen wie Elektromobilität, autonomes Fahren oder Batterietechnologie investiert werden. Beim „Power Day“ präsentierte VW Pläne für sechs eigene Batteriefabriken unter anderem in Schweden und Salzgitter sowie einheitliche Batteriezellen, die ab 2023 die Kosten erheblich senken sollen. Und Duesmann stellte bei dem Event den neuesten Stand von Projekt „Artemis“ vor, das bei Audi angesiedelt ist und ein Ziel hat: „das beschleunigte Entwickeln zusätzlicher Auto-Modelle“. Im Mittelpunkt stünden dabei „neue Technologien rund um das elektrische, hoch-automatisierte Fahren mit konkretem Modellbezug. Der erste Auftrag ist ein hocheffizientes Elektroauto“. Das Kreativteam werde „außerdem ein weitreichendes Ökosystem um das Auto herum schaffen und so ein neues Geschäftsmodell für die gesamte Nutzungsphase entwerfen“.
Seit Herbert Diess 2015 von München nach Wolfsburg wechselte, hat er versucht, den größten europäischen Industriekonzern mit seinen rund 660.000 komplett umzukrempeln und neu auszurichten – und stand dabei auch schon kurz vor dem Rauswurf, weil er sich unter anderem mit dem mächtigen Betriebsrat angelegt hat. Und auch zwischen den Marken knirscht es bisweilen. Während man bei Porsche als Marke mit einem Teilbörsengang und damit mehr Eigenständigkeit liebäugelt, erteilte Diess dem nun in einem Interview eine Absage, weil man die Gewinne der lukrativen Sportwagenmarke für den Umbau des Gesamtkonzerns brauche. Er hat wohl noch viele Kämpfe auszufechten. Der Tanker VW aber bewegt sich und nimmt langsam Fahrt auf. Wenn es nach Diess geht, gilt dabei das Motto von Cariad: „Auto, ich bin digital“.